Der Comedysonntag: blankes Entsetzen und Ovationen (Fotoseite unten)

NIEDERRHEIN. Blankes Entsetzen und stehende Ovationen markierten am dritten Tag des Comedy Arts Festivals die maximal-emotionalen Ausschläge der rund 1500 Zuschauer. Gleich zu Beginn setzte der aus dem Fernsehen als „Camper“ bekannte Willi Thomczyk die Brechstange an und entzweite das Publikum in diejenigen, die ihn fortan hassen werden und in eine zweite, kleinere Gruppe, die hinter seinen brutalen, sadistischen und obszönen Sudeleien noch den Clown ausmachen konnte.

Zweimal Standing Ovations

Zweimal erhob sich die begeisterte Menge in der Sparkassen-Arena. Die ersten Ovationen und Jubelstürme galten „Herrn Niels“. Monsieur Agon, exzellenter Moderator und Varietékünstler des Abends, hatte den außergewöhnlichen Bewegungskünstler als „gute Seele meines Programms“ eingeführt. Und so, wie man von der Seele bis heute nicht weiß, wo sie eigentlich sitzt, war es unmöglich zu erkennen, wo der stumme Herr Niels seinen Schwerpunkt hat.

Gleichsam losgebunden von Schwerkraft und jeglicher physischen Gesetzmäßigkeit machte Herr Niels das Publikum ob seiner Körperbeherrschung staunen. Seine erstklassige Pantomime garnierte der Gummimann mit kleinen Tricks, die zusätzlich für Lacher sorgten. So drehte sich eine Malerrolle selbst dann, als er eine gar nicht vorhandene Wand zwischen sich und dem Publikum bemalte. Und von einem Regenschirm, den er nach technisch eingespieltem Donner aufspannte, trieften bei seinem Spaziergang durch die Stuhlreihen Ströme Wassers.

Klassentreffen

Dem blonden Emil und seinem Programm „Ungefärbt“ galten die zweiten Standing Ovations des Abends. Der gebürtige Leipziger, der von früheren Auftritten in der Grafenstadt bereits eine Fangemeinde in Moers hat, zeigte ganz große Comedy. Bei einem Klassentreffen mit Marcel Reich-Ranicki, Herbert Grönemeyer, Helge Schneider, Peter Maffay, Diddi Hallervorden, Götz George, Klaus Kinski und Hermann van Veen unterstrich er, warum man ihn das Chamäleon am deutschen Comedyhimmel nennt. Und mit seinen Parodien als tschechischer Entertainer Pepik Nowak und auf Modern Talking schritt Emil die scharfe Kante zwischen penetranter Kurortunterhaltung und feinen Pointen ab. Prädikat: ganz große Klasse!

Frequenzstörungen ließen hingegen Adrian Engels und Markus Riedinger hören, die als das Duo „Onkel Fisch“ durch den Äther und über deutsche Bühnen flitzen. Oft zu schnell, zu abrupt und zu wenig originell gehören die beiden Freunde eher in die Fast-Food-Abteilung der Comedy. „Fette“ Reden, große Gesten und viel Einsatz von Tontechnik und Lichteffekten konnten nicht darüber hinweg täuschen, daß da zwei Jungs, die sich im Radiosektor von Eins Live einen Namen gemacht haben, für ein Festival von Rang zu große Anzüge ausgesucht hatten.

Vergebliche Sirene

Das passende Kleid, aber den falschen Rahmen hatte hingegen Coco Camelle erwischt. Mit ihrem leisen Witz in Text und Musik erinnerte sie unmittelbar an Revuen eines Georg Kreisler. Doch es war zu spät. Nach drei Tagen und mehr als 50 Stunden nach dem ersten Act des Festivals, da konnten ihre Sirenengesänge das Publikum ebenso wenig erreichen und zum Dableiben verführen wie weiland die Gefährten des Odysseus. Dennoch: Mit Coco Camelle war eine Künstlerin in Moers, die man andernorts noch einmal richtig und dann würdig hören möchte.

Ja, und dann nochmal zurück zu Willi, dem „Brutzler“, der sich dem Vernehmen nach bei vielen Festival-Besuchern ganz schön die Finger verbrannt hat. Was ist in den Mann gefahren, der mit Peter Zadek politisches Theater gemacht hat und den eine tiefe Freundschaft mit Heiner Müller verband? Wie kommt der Sohn einer Bergarbeiterfamilie aus Wanne-Eickel dazu, in Moers den Vollproleten ohne Rücksicht auf Geschmack und Anstand zu mimen? Zwei zur Seite gesprochene Äußerungen bieten einen Schlüssel an: 1. „Wir haben den Zweiten Weltkrieg schon überrundet.“ 2. „Ich bin seit 25 Jahren ein Clown.“

Katharsis mit Willi Thomczyk

Glasklar blickt Willi Thomcyk in die real existierende Wirklichkeit. Das, was er auf der Bühne sagt, hört heute schon jeder Grundschüler auf dem Schulhof. Er sieht die Realität ebenso klar wie ein Leo Bassi, der sich übrigens auch einen Terror-Clown nennt und mindestens ebenso drastisch sagt und zeigt, was los ist in dieser Welt, nur sagt Bassi es eben in Englisch! Um es klar zu sagen: Der Hardcore, den Willi Thomcyk in doppeltem Sinne auf die Bühne bringt, ist mutig, leidenschaftlich und engagiert zugleich. Und er kann es nur tun, weil er den Bekanntheitsgrad hat, den er hat. Daß er es ohne Rücksicht auf seine Reputation als ehrenwerter Künstler tut, ist ihm hoch anzurechnen. Prädikat: Thomczyk führte das Publikum in einen emotionalen Bezirk, den ein Aristoteles Katharsis genannt hätte. Oder anders: Brutzler Thomczyk ist der Besteiger des gesellschaftlichen Schlackeberges.

9.8.2004Die Fotos vom Sonntagabend beim Comedy Arts vermitteln einen Eindruck vom wechselvollen Programmbogen. Zum Vergrößern der Fotos einfach draufklicken.

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